Enttäuschende Entscheidung der Zentralkammer Paris

Von Dr. Michael Wallinger

Bericht über die Entscheidung der Zentralkammer Paris vom 13. November 2023 UPC_CFI_255/2023

Details des Verfahrens: Preliminary objection in Bezug auf die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage

Nichtigkeitsklägerin: Meril Italy srl, Mailand, Italien

Nichtigkeitsbeklagte: Edwards Lifesciences Corporation, California, USA,

Streitpatent EP 3 646 825

 

Sachverhalt und Anträge: Die Nichtigkeitsklägerin, italienisches Tochterunternehmen der Meril India, hat am 4. August 2023 bei der Zentralkammer Paris Nichtigkeitsklage gegen das Streitpatent erhoben. Die Nichtigkeitsbeklagte hatte zuvor gegen Meril India und Meril Deutschland am 1. Juni 2023 Verletzungsklage bei der Lokalkammer München erhoben, die unter dem Aktenzeichen UPC_CFI_15/2023 dort anhängig ist.

Die Nichtigkeitsbeklagte beantragt im Rahmen einer Preliminary objection die Klage als unzulässig abzuweisen und hilfsweise, das Verfahren auszusetzen, bis die Beklagten des Münchner Verfahrens die Klageerwiderung und gegebenenfalls die Nichtigkeits-Widerklage eingereicht haben. Weiter hilfsweise soll die Frist zur Erwiderung auf die Nichtigkeitsklage um einen Monat verlängert werden.

Die Preliminary objection stützt sich auf Art. 33 (4) EPGÜ, wonach eine Nichtigkeitsklage, wenn bereits eine Verletzungsklage bei einer Lokal- oder Regionalkammer „zwischen denselben Parteien zum selben Patent“ erhoben wurde, nur vor derselben Lokal- oder Regionalkammer erhoben werden darf. Fraglich ist daher, ob Meril Italy als Tochterunternehmen von Meril India und Schwesterunternehmen von Meril Deutschland „dieselbe Partei“ wie Meril India bzw. Meril Deutschland ist.

Die Nichtigkeitsbeklagte trägt dazu vor (und belegt wohl auch), dass Meril Italy erst im März 2023 gegründet wurde, dass alle dortigen Mitarbeiter gleichzeitig Mitarbeiter von Meril India sind, dass der angegebene Unternehmenssitz die Adresse einer Buchhaltungsfirma ist und dass Meril Italy keine geschäftlichen Aktivitäten entfaltet.

Die Nichtigkeitsklägerin beantragt die Verschiebung der für den 26. Oktober 2023 vorgesehenen mündlichen Verhandlung, um es ihr zu ermöglichen, auf den Schriftsatz der Nichtigkeitsbeklagten vom 25. Oktober 2023 schriftlich Stellung zu nehmen. Hilfsweise beantragt sie, diesen Schriftsatz und die darin enthaltenen Argumente unbeachtet zu lassen.

Anordnung: Das Gericht weist die Preliminary objection und den Antrag auf Hinterlegung einer Sicherheitsleistung für die Rechtskosten zurück.

Begründung

Verschiebung der mündlichen Verhandlung

Der Antrag auf Verschiebung der mündlichen Verhandlung wird abgelehnt. Die Möglichkeit, Schriftsätze bis am Tag vor der mündlichen Verhandlung einzureichen, diene, so das Gericht, der Vorbereitung der Verhandlung im Hinblick auf die zu erörternde Punkte und trage damit zu einem effizienten Ablauf der Verhandlung bei. Zudem werde der Umfang der Preliminary objection durch den ursprünglichen Antrag bestimmt und es dürfe diesem nichts hinzugefügt werden, weder weitere Gründe noch weitere Tatsachen. Auch dürfen keine neuen Beweismittel vorgelegt werden, es sei denn, es handele sich um Sachverhalte, die nach Einreichung der Preliminary objection entstanden seien.

Definition des Begriffs „dieselben Parteien“ in Art. 33 (4) EPGÜ - wörtliche Bedeutung

Die Nichtigkeitsbeklagte macht geltend, aufgrund der Verbindung zwischen Meril Italy und Meril India dürfe die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 33 (4) EPGÜ nur als Nichtigkeits-Widerklage bei der Lokalkammer München erhoben werden. Es müsse deshalb festgestellt werden, ob Meril Italy im Sinne dieser Vorschrift dieselbe Partei ist wie Meril India oder Meril Germany.

Nach Art. 46 (5) EPGÜ kann jede natürliche oder juristische Person, die nach dem für sie geltenden nationalen Recht berechtigt ist, ein Verfahren anzustrengen, Partei sein. Das Gericht untersucht danach zunächst, ob Meril Italy nach dem italienischen Recht und der Rechtsprechung des Corte Suprema di Cassazione, dem höchsten Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Italien, eine eigenständige Partei ist und bejaht dies. Auch die Tatsache, dass der EuGH z.B. in der Entscheidung C-97/08 vom 10. September 2009 im Kontext des Wettbewerbsrechts gesellschaftsrechtlich miteinander verbundene Unternehmen als wirtschaftliche Einheit betrachtet und das rechtswidrige Verhalten einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zurechne, bedeutet nach Auffassung des Gerichts nicht, dass die Tochtergesellschaft keine eigene Rechtspersönlichkeit habe. Meril Italy und Meril India bzw. Meril Germany seien deshalb nicht als dieselbe Partei anzusehen.

Definition des Begriffs „dieselben Parteien“ in Art. 33 (4) EPGÜ - die Argumentation im Hinblick auf die Neufassung der Brüssel I-Verordnung

Die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, üblicherweise als Neufassung oder recast der Brüssel I-Verordnung (EG) Nr. 44/2001 bezeichnet, betrifft weiterhin die EU-weite Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen. Nach Auffassung der Nichtigkeitsbeklagten sei der Ausdruck „dieselben Parteien“ im EPGÜ im Hinblick auf diese Verordnung und das Urteil des EuGH vom 19. Mai 1998 in der Rechtssache C-351/96 weit auszulegen.

Das Gericht lehnt dieses Argument ab und begründet dies mit grundsätzlichen Überlegungen zu der im EPGÜ vorgenommenen Aufteilung der Zuständigkeit für verschiedene Verfahrensarten. Die Vorschrift, nach der die Zuständigkeit für eine nach Einreichung einer Verletzungsklage erhobene Nichtigkeitsklage der jeweiligen Lokalkammer zugewiesen werde, stelle eine Ausnahme vom Prinzip dar, dass für die Feststellung des Rechtsbestands eines Patents die Zentralkammer zuständig sei. Als Ausnahmetatbestand sei diese Vorschrift eng auszulegen. Darum sei Meril Italy als eigenständige Partei anzusehen.

Definition des Begriffs „dieselben Parteien“ in Art. 33 (4) EPGÜ - die Argumentation im Hinblick auf die Strohmann-Theorie

Das Gericht räumt ein, dass es eine „Verbindung“ zwischen den beiden Unternehmen gebe, diese sei aber nicht ausreichend, um zu belegen, dass es eine Vereinbarung zwischen Meril India und Meril Italy gebe, dass Meril Italy im Interesse von Meril India handele. Die vorhandenen Anzeichen reichten nicht aus, um das Vorhandensein einer solchen Vereinbarung anzunehmen. Die Tatsache, dass Meril Italy keine eigenen Geschäftsräume habe und keine geschäftlichen Aktivitäten entfaltet, könne damit erklärt werden, dass das Unternehmen erst im März 2023 gegründet worden sei und sich noch in einer Vorbereitungsphase befinde.

In diesem Zusammenhang verweist das Gericht auch auf die Entscheidungen der großen Beschwerdekammer des EPA G3/97 und G4/97, ohne allerdings darauf hinzuweisen, dass der Sachverhalt dort ein völlig anderer ist, da die Verbindung zu einem früher eingereichten Verletzungsverfahren fehlt. Die Große Beschwerdekammer hatte sich dort mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Einspruch eines Strohmanns zulässig ist und dies bejaht, solange dieser nicht z.B. im Auftrag des Patentinhabers handele.

Definition des Begriffs „dieselben Parteien“ in Art. 33 (4) EPGÜ - Argumentation im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Rechtsprechung

Nach Auffassung der Nichtigkeitsbeklagten besteht die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen, falls die Verletzungsbeklagten Meril India und Meril Deutschland im Verletzungsverfahren eine Nichtigkeits-Widerklage erheben. Genau das soll Art. 33 EPGÜ verhindern. Ferner müssten sich dann zwei Kammern des gleichen Gerichts mit der gleichen Rechtsfrage, nämlich der Gültigkeit des Streitpatents befassen. Dies sei als missbräuchliche Inanspruchnahme des Gerichts anzusehen.

Das Gericht sieht dies nicht als überzeugend an und meint, sich widersprechende Entscheidungen würden durch Regel 295.m VerfO verhindert. Dieses Argument überrascht. Die Regel 295 nennt 13 verschiedene Gründe, um ein Verfahren auszusetzen, die parallele Anhängigkeit einer Nichtigkeitsklage gehört aber nicht dazu, und zwar offensichtlich deshalb, weil dies durch Art. 33 (4) EPGÜ ausgeschlossen sein sollte. Regel 295 lautet: das Gericht kann das Verfahren aussetzen ... (m) „in jedem anderen Fall, in dem die ordnungsgemäße Rechtspflege dies erfordert“. Warum das Gericht zu diesem Argument (Gründe Nr. 80) auf die Präambel 2 und 4 der Verfahrensordnung und die dort genannten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, Flexibilität, Fairness und Gerechtigkeit hinweist, erschließt sich dem Beobachter nicht. Der Gedanke, dass das Urteil fair sein könnte, drängt sich dem Beobachter auf jeden Fall nicht auf.

Anordnung einer Sicherheitsleistung

Zum Antrag auf die Anordnung einer Sicherheitsleistung meint das Gericht, das geringe Stammkapital von 10.000 € und die fehlende Geschäftstätigkeit der Nichtigkeitsklägerin sei kein Grund für die Annahme, dass sie ihren Kostenerstattungsanspruch nicht würde durchsetzen können. Das Gericht weist deshalb den Antrag ab.

 

Kritik am Urteil

Das Urteil verlässt die bisherige pragmatische Linie des Gerichts erster Instanz und auch des Berufungsgerichts bei der Auslegung der Verfahrensordnung. Es verstößt gegen die Rechtsprechung des EuGH und ist logisch falsch.

Das einzige wesentliche Argument, auf das sich das Gericht bei seiner Bejahung der Zulässigkeit dieser Nichtigkeitsklage stützt, ist das Argument, dass die Vorschrift nach Art. 33 (4) EPGÜ als Ausnahmevorschrift eng auszulegen sei. Warum dies sein sollte, erläutert das Gericht allerdings nicht. Es bleibt bei der bloßen Behauptung.

Der EuGH hat bekanntlich schon sehr früh festgelegt, wie bei der Auslegung von gesetzlichen Normen vorzugehen ist. So schreibt er in der Entscheidung C 26/62, in der es fast ausschließlich um richtige Auslegung des EU-Vertrages geht, dass die Frage der Auslegung „vom Geist dieser Vorschriften, von ihrer Systematik und von ihrem Wortlaut her zu entscheiden“ sei.

Im 6. Erwägungsgrund des EPGÜ heißt es

IN DER ERWÄGUNG, dass das Einheitliche Patentgericht in der Lage sein sollte, rasche und hochqualifizierte Entscheidungen sicherzustellenund dabei einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Rechteinhabern und anderen Parteien unter Berücksichtigung der erforderlichen Verhältnismäßigkeit und Flexibilität zu gewährleisten,

Art. 33 (4) EPGÜ dient ersichtlich, wenn auch nicht nur, dem Zweck, rasche Entscheidungen sicherzustellen. Der Vorschlag der Pariser Kammer, dass das Verletzungsgericht im Falle einer bei der Zentralkammer anhängigen Nichtigkeitsklage das Verletzungsverfahren aussetzen solle, steht diesem Gesetzeszweck diametral entgegen. Es folgen daraus die Probleme, die durch das Trennungsprinzip im deutschen Recht entstehen und Entscheidungen über Verletzungsfragen manchmal über viele Jahre verzögern. Genau das sollen das UPC und seine straffe Verfahrensordnung verhindern. Dies ist aber nicht der einzige Gesetzeszweck. Die gleichzeitige Behandlung von Verletzungsfrage und Nichtigkeitseinwand soll auch den sogenannten Angorakatzen-Effekt verhindern, dass nämlich der Patentinhaber im Einspruchs- und Nichtigkeitsverfahren das Patent eng auslegt, während er es im Verletzungsverfahren breit ausgelegt und damit Ausführungsformen in den Schutzbereich einbezogen werden, die im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren als nicht patentfähig eingestuft worden wären.

Die Entscheidung steht auch im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, die nach Art. 20 und 21 EPGÜ auch für das UPC maßgeblich sind.

In dem von der Pariser Kammer zitierten Urteil des EuGH in der Rechtssache C 351/96 hat der französische Cour de Cassation dem EuGH eine Frage zur Auslegung des Art. 21 des Brüssel I-Abkommens vorgelegt. Dabei geht es um das Verständnis des Begriffes „dieselben Parteien“. In dem vom EuGH entschiedenen Fall waren die Parteien in dem einem Verfahren der Versicherer eines Schiffes, der gegen den Eigentümer der Ladung und dessen Versicherer klagte, in dem anderen Verfahren klagte der Eigentümer der Ladung und deren Versicherer gegen den Eigner des Schiffes und dessen Charterer. Der EuGH geht in diesem Fall davon aus, dass es sich dann um dieselben Parteien handelt, wenn die Interessen des Schiffversicherers und des Versicherungsnehmers auf der einen Seite und die des Eigners und Charterer des Schiffes auf der anderen Seite identisch und voneinander untrennbar sind. Der EuGH beantwortet die Frage also nicht danach, ob es rechtlich unterschiedliche Parteien sind – das war unstreitig – sondern danach, ob die Interessen untrennbar verbunden sind. Dass im vorliegenden Fall die Interessen der Mutterfirma Meril India und die deren hundertprozentiger Tochter Meril Italy untrennbar miteinander verbunden sind, wird man kaum in Frage stellen können.

In der Entscheidung C 97/08 führte der EuGH in Ziff. 61 der Gründe aus, dass es für die Kommission im Sinne einer widerlegbaren Vermutung ausreiche, wenn die Muttergesellschaft 100 % des Kapitals der Tochtergesellschaft hält, um anzunehmen, „dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieses Tochterunternehmens ausübt“. Entgegen der Auffassung der Pariser Kammer bedarf es also keiner Anhaltspunkte, um davon auszugehen, dass Meril Italy hier für Meril India handelt.