Urknall in München

Bericht über die 113 Seiten umfassende Entscheidung zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen im Fall 10x Genomics vs. NanoString, die die Lokalkammer München des UPC innerhalb von drei Wochen nach der mündlichen Verhandlung veröffentlicht hat.

Dr. Michael Wallinger

1. Einleitung

Am 5. und 6. September 2023 fand vor der Lokalkammer München des UPC die Verhandlung im Fall 10x Genomics vs. NanoString statt. Am 19. September 2023 wurde die Entscheidung verkündet, die einstweiligen Maßnahmen anzuordnen, und am 28. September 2023 wurde die begründete Entscheidung auf der Webseite des UPC veröffentlicht. Die Entscheidung zeigt, wie leistungsfähig das neue Gerichtssystem sein kann.

Gemäß Art. 76 Abs. 2 EPGÜ dürfen Sachentscheidungen „nur auf Gründe, Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die von den Parteien vorgebracht oder auf Anordnung des Gerichts in das Verfahren eingebracht wurden und zu denen die Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.“ Das Gericht hat also über den Sachverhalt zu entscheiden, der ihm von den Parteien unterbreitet wird.

In dem von der Lokalkammer Düsseldorf entschiedenen „E-Bike“-Fall (http://www.eplit.eu/local-division-dusseldorf-orders-provisional-measures-in-ex-parte-proceedings%ef%bb%bf/) war der Vortrag des Antragsgegners zur Nichtverletzung und zum fehlenden Rechtsbestand so unsubstantiiert, dass das Gericht sich mit diesen Fragen nur sehr kursorisch befassen musste.

Im vorliegenden Fall hatten die Antragsgegnerinnen eine Vielzahl von Argumenten vorgetragen, die nach ihrer Auffassung gegen die Anordnung von einstweiligen Maßnahmen sprachen: Die Münchner Lokalkammer sei nicht zuständig, das Patent werde nicht verletzt, das Patent sei nicht rechtsbeständig, da es unzulässig geändert, nicht ausführbar, nicht neu und nicht erfinderisch sei, die Antragssteller seien nicht aktivlegitimiert, es fehle das Rechtsschutzbedürfnis, die Antragsgegnerinnen könnten sich auf eine Lizenzerteilung berufen, die Durchsetzung der Ansprüche sei kartellwidrig etc. Die Antragstellerinnen sind dem ausführlich entgegengetreten.

Gemäß Art. 42 Abs. 1 EPÜ führt das Gericht „die Verfahren auf eine ihrer Bedeutung und Komplexität angemessene Art und Weise durch“. Dass das sehr umfangreiche Urteil, das, soweit erkennbar, alle Einwände der Antragsgegnerinnen aufgreift und abhandelt,  im Hinblick auf die Komplexität des vorliegenden Verfahrens angemessen ist, wird man kaum in Frage stellen können.

 

Anmerkung zur Bezeichnungsweise in diesem Bericht:

Das EPGÜ bezeichnet den Absatz y eines Artikels x als  „Art. x Abs. y“, also z. B. „Art. 47 Abs. 2“. Die Verfahrensordnung dagegen bezeichnet einen Absatz y einer Regel x als „Regel x.y“, also z. B. „Regel 212.3“. Der vorliegende Bericht folgt diesen Vorgaben. Seitenzahlen betreffen das erörterte Urteil.

 

2. Details des Verfahrens:

Verfahrensnummer: UPC CFI 2/2023

Antrag: Der Antrag wurde am 1. Juni 2023 bei der Lokalkammer München eingereicht.

Gericht:  Dr. M. Zigann (DE, Vorsitzender Richter), T. Pichlmaier (DE, Berichterstatter),  A. Kupecz (NL, rechtlich qualifizierter Richter mit einem MSc in Molekularbiologie) und E. Enderlin (FR, im Bereich der Biochemie technisch qualifizierter Richter)

Patentinhaberin: President and Fellows of Harvard College (US)  

Antragstellerinnen: 10x Genomics, Inc. (US) - Antragstellerin zu 1) - und die Patentinhaberin - Antragstellerin zu 2) -

Antragsgegnerinnen: NanoString Technologies aus US - Antragsgegnerin zu 1) -, DE - Antragsgegnerin zu 2) - und NL - Antragsgegnerin zu 3) -

Verfahrenssprache: Deutsch

Streitpatent: EP 4 108 782 B1 (EP‘ 782), mit dem Titel „Zusammensetzungen und Verfahren zum Nachweis von Analyten“. Das am 27. April 2022 angemeldete Patent ist aus einer Teilanmeldung zur EP 18173059.9 hervorgangen, die ihrerseits eine Teilanmeldung der EP 12860433.7 ist. Der Erteilungsbeschluss datiert vom 11. Mai 2023, die Erteilung wurde am 7. Juni 2023 veröffentlicht. Das Patent EP‘ 782 ist ein europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung. Die Antragsgegnerin zu 1) hat am 18. Juli 2023 gegen das Patent Einspruch beim EPA eingelegt.

Das Patent hat 16 Verfahrensansprüche, wobei die Verfahrensansprüche 2-16 jeweils direkt oder indirekt auf den einzigen unabhängigen Anspruch 1 zurückbezogen sind.

Die Antragstellerinnen hatten drei Ausführungsformen angegriffen:

Ausführungsform 1:  Eine Vorrichtung, mit der biologische Proben, wie z. B. fixierte Zellen und Gewebeschnitte, automatisiert auf das Vorhandensein bestimmter Analyten, nämlich RNA und Proteine, untersucht werden können.

Ausführungsform 2: Das Nachweisreagenz, das zum Nachweis von RNA verwendet werden kann.

Ausführungsform 3: Eine Sonde, die für den Nachweis von RNA und für den Nachweis von Proteinen verwendet werden kann.

 

3. Zuständigkeit der Lokalkammer München (Seite 40)

Die Antragstellerinnen hatten gegen die Antragsgegnerinnen aus dem auf die Stammanmeldung erteilten Patent EP 2 794 928 B1 im März 2022 zwei Unterlassungsklagen beim Landgericht München erhoben, denen mit Urteil vom 17. Mai 2023 stattgegeben wurde. Die Antragstellerinnen vollstrecken diese Urteile auch. Deshalb – so die Antragsgegnerinnen – gebe es keine Verletzungshandlungen in Deutschland und damit auch keine Zuständigkeit der deutschen Lokalkammer.

Das Gericht sieht dies anders: Die Zuständigkeit regele sich nach Art. 33 Abs.1 lit. a) EPGÜ. Patentverletzende Produkte seien über das Internet zum Versand in die Mitgliedstaaten der EU und damit auch nach Deutschland angeboten worden. Ferner seien nach den als Anlagen vorgelegten Veranstaltungsankündigungen Werbeveranstaltungen an Forschungseinrichtungen in Deutschland geplant. Zur Begründung der Zuständigkeit reiche der schlüssige Vortrag der Antragstellerinnen. Ob sich daraus am Ende tatsächlich eine Patentverletzung ergebe, sei für die Beantwortung der Zuständigkeitsfrage nicht maßgeblich.

 

4. Zulässigkeit des Antrags (Seite 41)

a) Formerfordernisse der Regel 206

Die Antragsgegnerinnen waren der Auffassung, dass der Antrag als unzulässig abzuweisen ist, wenn die in der Regel 206 genannten Formerfordernisse nicht sämtlich erfüllt sind. Nach Regel 208.1 ist die Kanzlei zur Prüfung der Formerfordernisse zuständig. Stellt sie Mängel fest, teilt sie dies nach Regel 16 dem Antragsteller mit, der die Mängel innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu beheben hat. Werden die Mängel nicht behoben, kann in der Tat auf Antrag eine Versäumnisentscheidung nach Regel 355 ergehen.

Tatsächlich hatte die Kanzlei aber keine Mängel festgestellt, und es wurde von den Antragsgegnern auch entgegen Regel 355 kein Antrag auf Abweisung des Antrags auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen als unzulässig gestellt.

Das Gericht folgt den Antragsgegnerinnen nicht. Die Prüfung auf Formerfordernisse solle nur feststellen, ob die geforderten Angaben gemacht worden sind. Die inhaltliche Prüfung der Angaben obliege dagegen dem Gericht. Auch das Fehlen der später nachgereichten Anlagen bei Einreichung des Antrags mache den Antrag nicht unzulässig. Eine Anordnung einstweiliger Maßnahmen ohne Anhörung des Gegners sei nicht beantragt worden, und nach Regel 211.2 könne das Gericht nach der Einreichung des Antrags die Vorlage fehlender Beweismittel anordnen, woraus sich ergebe, dass diese nicht zwingend mit dem Antrag einzureichen seien.

 

b) Rechtsschutzbedürfnis (Seite 45)

Die Antragsgegnerinnen meinten, durch das in Deutschland vollstreckbare Urteil zum Stammpatent EP‘ 928 gegen die gleichen Ausführungsformen fehle dem Antrag das Rechtsschutzbedürfnis. Auch dem folgt das Gericht nicht: Da die beantragte Anordnung bei einem Patent mit einheitlicher Wirkung für alle teilnehmenden EU-Staaten Wirkung habe (im Unterschied zur Wirkung des Urteils nur in Deutschland), bestehe generell ein Bedürfnis, das UPC anzurufen. Zudem handele es sich um unterschiedliche Patente und damit um einen unterschiedlichen Streitgegenstand.

 

5. Antragsberechtigung (Aktivlegitimation) der beiden Antragstellerinnen (Seite 46)

Die Antragstellerin zu 2) sei als Inhaberin des Streitpatents antragsberechtigt. Da die Antragstellerin zu 2) bei den Forschungsarbeiten, die zur Lehre des Streitpatents führten, in den USA öffentliche Mittel in Anspruch genommen habe, müsse sie die gesetzlichen Vorgaben aus dem sogenannten Bayh-Dole Act einhalten. Die Antragstellerinnen hätten vorgetragen, dies getan zu haben, und die Antragsgegnerinnen hätten – so das Gericht – dies nicht zu widerlegen vermocht.

Da der Einwand der Antragsgegnerinnen somit bereits am Tatbestand scheiterte, konnte das Gericht bedauerlicherweise nicht die Frage beantworten, ob es für die Geltendmachung eines Patents vor dem UPC auf die formale Stellung als Patentinhaber im Register ankommt oder ob die materielle Berechtigung maßgeblich ist.

Die Antragstellerin zu 1) berief sich zur Aktivlegitimation auf eine durch die Antragstellerin zu 2) erteilte, ausschließliche Lizenz am Streitpatent. Diese sei aber nach einem vorgelegten Urteil des District Court of Delaware vom 10. Juli 2023 zwischen den gleichen Parteien (das Urteil ist auf der Webseite des Gerichts abrufbar) nicht zulässig, da der Bayh-Dole Act nur einfache, nicht aber ausschließliche Lizenzen zulasse.

Die Antragstellerin zu 1) sei aber dennoch – so das Gericht – antragsberechtigt, da nach Art. 47 Abs. 3 EPGÜ auch der Inhaber einer nicht ausschließlichen Lizenz berechtigt sei, das Gericht anzurufen, wenn er den Patentinhaber zuvor unterrichtet hat und die Lizenzvereinbarung dies zulässt. Nach Art. 47 Abs. 4 EPGÜ kann der Patentinhaber dem von einem Lizenzinhaber angestrengten Verfahren beitreten. Da diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben waren, bestätigt das Gericht die Antragsberechtigung für beide Antragstellerinnen.

 

6. Gegenstand des Streitpatents – Auslegung (Seite 48)

Die Verfahrensordnung fordert in Regel 13.1 lit. n) eine Auslegung des Patentanspruchs durch den Kläger in der Klageschrift und nach Regel 24 lit. g) gegebenenfalls eine Stellungnahme des Beklagten dazu in der Klageerwiderung. Bei der Widerklage auf Nichtigerklärung ist es anders: Hier fordert Regel 25.1 lit. b) die Auslegung des Patentanspruchs durch den Beklagten bzw. bei der Klage auf Nichtigerklärung nach Regel 44 lit. e) durch den Kläger. Die Regeln zu einstweiligen Maßnahmen fordern nicht explizit die Auslegung des Patentanspruchs in den Schriftsätzen der Parteien. Es bedarf aber keiner weiteren Erörterung, dass die Auslegung des Anspruchs zur Diskussion der Gültigkeit des Patents und der Frage der Verletzung unabdingbar ist.

Das Gericht befasst sich sehr umfassend mit dem Gegenstand des Streitpatents und der Auslegung des (einzigen unabhängigen) Anspruchs 1. Es geht dabei – wie es z. B. der deutschen Rechtspraxis entspricht – von dem im Streitpatent erörterten Stand der Technik aus, beschreibt darauf aufbauend detailliert die Lehre des Streitpatents und gibt eine Merkmalsgliederung des Anspruchs 1 in der deutschen Verfahrenssprache wieder.

Im Anschluss daran erörtert das Gericht sein Verständnis der hinsichtlich der Auslegung im Streit stehenden Merkmale dieses Anspruchs nach Art. 69 EPÜ ausgehend vom Wortlaut des Anspruchs und den Ausführungen in der Beschreibung und den Zeichnungen.

 

7. Rechtsbestand

a) Prüfungspflicht des Gerichts (Seite 58)

Nach Regel 211.2 kann das Gericht den Antragsteller auffordern, „alle vernünftigerweise verfügbaren Beweise vorzulegen, um sich mit ausreichender Sicherheit davon überzeugen zu können,“ dass u. a. das betreffende Patent gültig ist“. In anderem Zusammenhang, nämlich bei der Ausübung des Ermessens, ob der Antragsgegner über den Antrag unterrichtet wird, gemäß Regel 209.2 lit. a), „berücksichtigt das Gericht insbesondere, ob das Patent in einem Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt aufrechterhalten wurde oder Gegenstand eines Verfahrens vor einem anderen Gericht war.“

Das Gericht folgt vorliegend der Auffassung der Antragsgegnerinnen, dass sich aus diesen Vorschriften die Verpflichtung des Gerichtes ergebe, den Rechtsbestand des Streitpatents eigenständig zu würdigen.

 

b) Maßstab „ausreichende Sicherheit“

Gemäß Regel 211.2 (s. o.) muss sich das Gericht „mit ausreichender Sicherheit“ vom Rechtsbestand des Streitpatents überzeugen. Nach Abwägung verschiedener Wahrscheinlichkeitsstufen (gewisse, überwiegende, erhebliche, hohe, an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit) kommt das Gericht unter Hinweis auf die zeitliche Befristung einstweiliger Maßnahmen durch das EPGÜ und den Charakter eines summarischen Verfahrens zum Ergebnis, dass für die Gültigkeit des Streitpatents eine überwiegende Wahrscheinlichkeit notwendig, aber auch ausreichend ist. Dies bedeutet im Verständnis des Kommentators, mathematisch ausgedrückt, eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 51 % zugunsten der Gültigkeit des Patents. Nach der Logik folgt daraus umgekehrt, dass vom „ausreichend sicheren Rechtsbestand“ dann nicht mehr ausgegangen werden kann, wenn die Wahrscheinlichkeit der Vernichtung mindestens 51 % beträgt.

Das Argument der Antragsgegnerinnen, die Vernichtung des Patents müsse nach der nationalen deutschen Rechtsprechung nicht überwiegend wahrscheinlich, sondern nur möglich sein, weist das Gericht mit der Bemerkung zurück, „diese  zu  nationalen  Verfahrensvorschriften  ergangene  Rechtsprechung“ sei „im Anwendungsbereich des EPGÜ und der VerfO nicht relevant“.

Zumindest die Münchner Lokalkammer des UPC scheint also davon auszugehen, dass die Verfahrensordnung des UPC ohne Rückgriff auf die nationale Rechtsprechung auszulegen ist.

 

c) Vermutung der Gültigkeit – Einzelfallbezogene Prüfung des Rechtsbestandes

Das Gericht widerspricht der Auffassung der Antragsgegnerinnen, dass bei der Prüfung der Gültigkeit des Patents auch die angeblich statistisch erfasste „hohe Vernichtungsquote“ europäischer Patente zu berücksichtigen sei, was wohl bedeuten sollte, dass europäische Patente der Vermutung der fehlenden Rechtsbeständigkeit unterliegen.

Das Gericht weist zu Recht darauf hin, dass diese Vernichtungsquote nur denjenigen kleinen Teil der erteilten Patente betreffe, die tatsächlich in einem Rechtsbestandsverfahren angegriffen werden, und daraus keine Aussage für die Grundgesamtheit folge. Außerdem habe das Gericht nach Regel 211.2 eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen und könne sich nicht auf statistische Erkenntnisse berufen.

Nicht überraschend (die 21. Kammer des LG München unter dem Vorsitzenden Richter Pichlmaier hatte seinerzeit die Vorlagefrage formuliert) verweist das Gericht ferner auf die Entscheidung des EuGH, Az. C-44/21, vom 28.04.2022. Der EuGH, dessen Rechtsprechung nach Art. 21 EPGÜ vom UPC zu beachten ist, hat bekanntlich dort (Rz. 41) festgestellt, dass für „europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit gilt“.

 

d) Darlegungs- und Beweislast für den Rechtsbestand (Seite 59)

Zur Darlegungs- und Beweislast für den Rechtsbestand zitiert das Gericht Art. 54 EPGÜ, wonach die Beweislast für Tatsachen diejenige Partei trägt, die sich auf diese Tatsachen beruft. Die vorstehend zitierte Regel 212.2, nach der das Gericht den Antragsteller auffordern kann, Beweise für die Gültigkeit vorzulegen, sieht das Gericht als Einräumen eines Ermessens, das dann zum Tragen kommt, wenn der Vortrag des Antragsgegners Zweifel am Rechtsbestand begründet. Unbeschadet der Verpflichtung der Antragstellerinnen, nach Regel 206.2 zum Rechtsbestand vorzutragen, tragen deshalb die Antragstellerinnen, so das Gericht, „zumindest initial nicht die Beweislast für die Gültigkeit des Streitpatentes“.

 

e) Fachperson - Besetzung des Gerichts (Seite 61)

Als maßgebliche Fachperson definiert das Gericht (S. 61) in Übereinstimmung mit den Antragsgegnerinnen „einen Chemiker oder Biologen mit einem Hochschulabschluss auf dem Gebiet der Biochemie, welcher über Erfahrung auf dem Gebiet der Nachweisstrategien für Biomoleküle verfügt.“

Weiter schreibt das Gericht und streicht damit die Stärke des UPC gegenüber nationalen Rechtsordnungen, die keine technisch qualifizierten Richter auf der Richterbank vorsehen, heraus: „Die Lokalkammer ist mit einem einschlägig technisch qualifizierten Richter besetzt. Auch einer der juristisch qualifizierten Richter verfügt über einen Hochschulabschluss (MSc) als Molekularbiologe.“

 

f) Unzulässige Erweiterung (Seite 61)

Als Maßstab für die Beurteilung der unzulässigen Erweiterung folgt die Lokalkammer erwartungsgemäß dem allgemein akzeptierten „Goldstandard“ der Großen Beschwerdekammer des EPA, nach dem eine Änderung „nur im Rahmen dessen erfolgen darf, was die Fachperson der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann“.

Unter Rückgriff auf die im Kapitel „Auslegung“ erörterte Auslegung des Patentanspruchs weist das Gericht die diesbezügliche Argumentation der Antragsgegnerinnen u. a. als „ersichtlich unvereinbar mit dem technischen Sinn des anspruchsgemäßen Verfahrens,  welcher durch dessen Wortlaut eindeutig zum Ausdruck kommt“, zurück.

 

g) Neuheit (Seite 63)

Das Gericht geht ferner „mit ausreichender Sicherheit“ davon aus, dass das Streitpatent nicht wegen fehlender Neuheit vernichtet werden wird.

Das Gericht vergleicht dazu im Einzelnen die Lehre der Entgegenhaltungen mit der Lehre des Streitpatents und erläutert die die Neuheit begründenden Unterschiede. Soweit die Antragsgegnerinnen mit dem qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts im Nichtigkeitsverfahren gegen das Stammpatent argumentieren, verweist das Gericht auf die Unterschiede im Anspruchswortlaut, die eine Übertragung des dort gefundenen Ergebnisses der Neuheitsprüfung auf den vorliegenden Fall ausschließen.

 

h) Erfinderische Tätigkeit – nächstliegender Stand der Technik (Seite 65)

Zur Auswahl des zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehenden Standes der Technik führt das Gericht aus:

„Der  zur  Feststellung  mangelnder  erfinderischer  Tätigkeit  heranzuziehende

(nächstliegende) Stand der Technik ist in der Regel ein Dokument des Stands

der Technik, das einen Gegenstand offenbart, der zum gleichen Zweck oder mit

demselben Ziel entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung und die wich-

tigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat, der also die wenigsten struktu-

rellen Änderungen erfordert. Ein wichtiges Kriterium bei der Wahl des erfolgver-

sprechendsten Ausgangspunkts ist die Ähnlichkeit der technischen Aufgabe. Da-

bei sollte Aspekten wie der Bezeichnung des Gegenstands der Erfindung, der

Formulierung der ursprünglichen Aufgabe und der beabsichtigten Verwendung

sowie der zu erzielenden Wirkungen generell mehr Gewicht beigemessen wer-

den als einer Höchstzahl identischer technischer Merkmale.“

Das Gericht wendet sich also ausdrücklich gegen eine schematische Definition des nächstliegenden Standes der Technik, bei dem es allein auf die Zahl der übereinstimmenden Merkmale ankommt.

 

i) Erfinderische Tätigkeit – Naheliegen (Seite 65)

Das Gericht prüft dann, ob die von den Antragsgegnerinnen dafür genannten Druckschriften D8, D27 und D23 für sich genommen bzw. in Kombination den Gegenstand des Anspruchs nahelegen. Dabei untersucht das Gericht sowohl, ob die Fachperson Veranlassung hatte, in einer bestimmten Weise zu handeln (z. B. S. 62, 2. Abs.), und ob die Fachperson dies auch tatsächlich getan hätte (Seite 69, 2. Abs.). Den Aufgabe-Lösungs-Ansatz wendet das Gericht nicht an, sondern prüft, ob die Fachperson Anlass hatte, die Lehre der jeweiligen Druckschriften zur Weiterentwicklung des Standes der Technik heranzuziehen.

 

j) Ausführbarkeit (Seite 69)

Fehlende Ausführbarkeit ist nach Auffassung des Gerichts dann gegeben, wenn

ernsthafte und durch nachprüfbare Tatsachen erhärtete Zweifel“ daran bestehen, „dass ein fachkundiger Leser des Patents anhand seines allgemeinen Fachwissens nicht in der Lage wäre, die Erfindung auszuführen“. Die Formulierung „durch nachprüfbare Tatsachen erhärtete Zweifel“ findet sich wörtlich in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA wieder, so z. B. in der Entscheidung T 19/90 – Krebsmaus (Abl. EPA 1990, 476), Ziff. 3.3 der Gründe.

Das Gericht prüft für jedes der vorgetragenen Argumente der Antragsgegnerinnen, ob die Fachperson aufgrund der Ausführungen in der Patentschrift und ihres Fachwissens in der Lage wäre, die Lehre des Anspruchs auszuführen, und kommt zum Ergebnis, dass keines dieser Argumente Zweifel an der Ausführbarkeit begründen könne.

 

8. Verletzung

a) Unmittelbare Verletzung (Seite 71)

Nach der Auffassung des Gerichts verletzen die Antragsgegnerinnen das geschützte Verfahren durch eigene Anwendung in ihrem Labor in Amsterdam und durch das Angebot an Dritte, das Verfahren anzuwenden.

Soweit die Antragsgegnerinnen einwenden, das Merkmal 2.2.1 nicht anzuwenden, liegt dem nach Auffassung des Gerichts eine fehlerhafte Auslegung des Patentanspruchs zugrunde. Nach der vom Gericht vorgenommenen Auslegung werde dieses Merkmal benutzt.

 

b)  Ausführung von Verfahrensschritten außerhalb des EPGÜ-Geltungsbereiches (Seite 78)

Die Antragsgegnerinnen bestreiten die Verletzung mit dem Argument, dass einzelne Schritte ihres Verfahrens cloudbbasiert außerhalb des Geltungsbereichs des EPGÜ ausgeführt würden. Dies führe, wie das Gericht feststellt, nicht aus der Verletzung heraus, da diese Datenanalyse keinen Bestandteil der Lehre des Patentanspruchs bilde, sondern erst zum Tragen komme, wenn die Verfahrensschritte des Anspruchs durchlaufen sind.

 

c) Mittelbare Verletzung (Seite 80)

Die Antragstellerinnen machen neben der unmittelbaren Verletzung (Anordnung A.I, Seite 104) auch eine mittelbare Verletzung geltend, und zwar durch den Vertrieb von Vorrichtungen (Anordnung A.II, Seite 106), von Nachweisreagenzien (Anordnung A.III, S. 108) sowie von Decodersonden (Anordnung A.IV, Seite 109), die jeweils dazu geeignet sind, das patentgemäße Verfahren auszuführen.

Da die angegriffenen Ausführungsformen 1 (Vorrichtung) und 3 (Sonde) nicht nur für den Nachweis von RNA, sondern auch für den Nachweis von Proteinen eingesetzt werden könnten, komme hier jedoch keine absolute Unterlassungsverfügung in Frage. Das Gericht ordnet vielmehr einen Warnhinweis an, mit dem auf der ersten Seite der Bedienungsanleitung, den Lieferpapieren und der Verpackung „unübersehbar und blickfangmäßig“ herausgestellt wird, dass die Vorrichtung nicht ohne Zustimmung der Antragstellerin zu 2) verwendet werden darf. Ferner müssten die Antragsgegnerinnen den Abnehmern eine Vertragsstrafe auferlegen, die an die Antragstellerin zu 2) zu bezahlen ist, wenn diese die Vorrichtung ohne Zustimmung der Antragstellerin zu 2) für den Nachweis von RNA verwenden. Einen entsprechenden Warnhinweis hält das Gericht auch für den Vertrieb der Sonden für erforderlich.

 

d) „Abstellen“ der Verletzung (Seite 82)

Die Antragstellerinnen haben u. a. beantragt, die Anwendung des patentgemäßen Verfahrens und dessen Angebot „abzustellen“. Das Gericht versteht diesen Antrag als eine die Antragsgegnerinnen zum Rückruf verpflichtende Folgenbeseitigung, sieht dafür im EPGÜ aber keine Rechtsgrundlage. Der Antrag wird deshalb insoweit abgewiesen.

Anmerkung des Kommentators: Dies betrifft die Anordnung einstweiliger Maßnahmen; im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens kann ein solcher Antrag gemäß Art. 64 Abs. 2 lit. b) EPGÜ gestellt werden. Der Kläger kann im Hauptsacheverfahren neben dem Rückruf auch die endgültige Entfernung der Erzeugnisse aus den Vertriebswegen (lit. d) und die Vernichtung der Erzeugnisse und/oder der betreffenden Materialien und Geräte (lit. e) verlangen.

 

9. Antragsfassung (Seite 82)

Das Gericht prüft dann, ob die anderen gestellten Anträge in Übereinstimmung mit dem EPGÜ und insbesondere mit der Verfahrensordnung formuliert sind. In der Sache geht es darum, ob die Unterlassungsanträge nach dem Wortlaut der Patentansprüche formuliert werden dürfen oder ob sie in Richtung auf die angegriffene Ausführungsform konkretisiert werden müssen.

Nach Auffassung des Gerichts gewährt Art. 62 Abs. 1 EPGÜ „einen weiten Spielraum (…), um die Fortsetzung von Rechtsverletzungen zu untersagen“. Es sei deshalb zulässig, die Anträge nach dem Wortlaut des Anspruchs zu formulieren.

Nach Meinung der Antragsgegnerinnen ist es aber nicht zulässig, mit „oder“ gekennzeichnete Alternativen aus dem Antrag auszuklammern, da damit eine gegenüber der erteilten Fassung unzulässigerweise beschränkte Anspruchsfassung geltend gemacht werde. Erwartungsgemäß sieht das Gericht darin aber kein Problem.

Das Gericht sieht es ebenfalls als zulässig an, dass die Antragstellerinnen in der mündlichen Verhandlung nach einer Anregung des Gerichts Hilfsanträge zu den  Anordnungsanträgen eingereicht haben und verweist dazu auf Art. 42 EPGÜ, der mit „Verhältnismäßigkeit und Fairness“ überschrieben ist.

 

10. Notwendigkeit der Anordnung einstweiliger Maßnahmen (Seite 84)

Nach Regel 206.2 lit. c) muss der Antragsteller darlegen, warum die Anordnung einstweiliger Maßnahmen notwendig ist, um eine drohende Patentverletzung zu verhindern bzw. die Fortsetzung einer angeblichen Verletzung zu untersagen. Gemäß Regel 209.2 lit. b) berücksichtigt das Gericht – im Zusammenhang mit der Ausübung des Ermessens, ob der Antragsgegner über den Antrag unterrichtet wird – weiterhin die Dringlichkeit des Antrags. Nach Regel 211.3 wägt das Gericht die Interessen der Parteien und den ihnen möglicherweise aus dem Erlass oder der Abweisung des Antrags entstehenden Schaden ab. Nach Regel 211.4 berücksichtigt das Gericht ferner „ein unangemessenes Zuwarten bei der Beantragung von einstweiligen Maßnahmen“.

Es komme somit, so das Gericht, für die Beurteilung der Notwendigkeit des Erlasses einstweiliger Maßnahmen sowohl auf sachliche als auch auf zeitlicheUmstände an.

 

a) Dringlichkeit – Unangemessenes Zuwarten

Die Frage nach den zeitlichen Umständen sieht das Gericht vorliegend als einfach zu beantworten an: Das Patent wurde am 11. Mai 2023 erteilt, der Antrag am 1. Juni 2023 eingereicht, also zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach dem Inkrafttreten des EPGÜ. Ein Zuwarten bei der Antragstellung kann somit nicht vorliegen.

Das Argument der Antragsgegnerinnen, die Antragstellerinnen hätten durch die nachlässig betriebene Durchsetzung des Stammpatents vor dem 1. Juni 2023 gezeigt, dass Dringlichkeit nicht vorliege, weist das Gericht mit einer sehr grundsätzlichen Überlegung zurück: Der Schaffung des UPC und des EP-Patents mit einheitlicher Wirkung hätte es nicht bedurft, wenn auch ohne dieses eine adäquate Rechtsdurchsetzung möglich gewesen wäre. Aus den Erwägungsgründen zum EPGÜ ergebe sich, dass dies von den Vertragsstaaten gerade nicht so gesehen wurde.

Durch die mit dem Einheitspatent und dem UPC bestehende Möglichkeit der einheitlichen Rechtsdurchsetzung habe die Antragstellerin zu 2) die Rechtsdurchsetzung zudem beschleunigt und nicht verzögert.

 

b) Zu erwartende Schäden (Seite 88)

Das Gericht folgt dem Vortrag der Antragsstellerinnen, dass ihnen Schäden drohten, wenn die Anordnung nicht erlassen würde, da dann die Produkte der Antragsgegnerinnen den Markt dauerhaft blockieren könnten. Die von den Antragsgegnerinnen ins Spiel gebrachten Schäden durch Handlungen Dritter sind nach Auffassung des Gerichts nicht zu berücksichtigen, da Art. 62 EPGÜ nur das Abwägen der Interessen der Parteien gegeneinander in den Blick nehme.

 

c) Sachliche Notwendigkeit (Seite 89)

Die Antragstellerinnen hatten vorgetragen, dass Kunden, die die Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens von den Antragsgegnerinnen erwerben, über viele Jahre an den Bezug der Nachweisreagenzien und Decodersonden von den Antragsgegnerinnen gebunden seien. Nach einem von den Antragsgegnerinnen selbst vorgelegten Sachverständigengutachten ergibt sich dadurch ein „spiegelbildliches Risiko“ für die beiden Parteien, je nachdem, ob der Antrag abgewiesen oder zugesprochen wird. Die Parteien sind sich also letztlich über die Risikoverteilung einig.

 

d) Behauptete Lizenzeinräumung (Seite 90)

Im bereits genannten Urteil des District Court of Delaware vom 10. Juli 2023 hat das US-Gericht geprüft, ob NanoString berechtigt ist, eine Verletzung des Vertrags zwischen der NIH (National Institute of Health) und der Antragstellerin zu 2) geltend zu machen. Dies, sei, so der Richter Matthew F Kenelly, nur möglich, wenn NanoString ein Drittbegünstigter des Vertrages wäre. Dies wird vom US-Gericht verneint, und dieser Meinung schließt sich die Lokalkammer München des UPC an.

Die Antragsgegnerinnen hatten ferner ein Rechtsgutachten zu möglichen Rechtsmitteln gegen die Entscheidung des US-Gerichts vorgelegt, das das hiesige Gericht aber aus verschiedenen – nachvollziehbar dargelegten – Gründen nicht überzeugt.

 

e) Lizenzanspruch aus US-Wettbewerbs- oder US-Kartellrecht (Seite 92)

Der Vortrag der Antragsgegnerinnen, ihnen stünde nach US-Wettbewerbs- bzw. Kartellrecht ein Lizenzanspruch zu, ist nach Auffassung des Gerichts eine bloße Rechtsbehauptung, der kein zugunsten der Antragsgegnerinnen ergangenes Gerichtsurteil eines US-Gerichts zu Grunde liege. Das Gericht vermisst zudem im vorgelegten Gutachten konkrete Ausführungen zum hier vorliegenden Sachverhalt und warum sich ein solcher Rechtsanspruch auch auf das Gebiet der Vertragsstaaten des EPGÜ erstrecken sollte.

 

f) Lizenzanspruch aus EU-Kartellrecht – keine marktbeherrschende Stellung der                  Antragstellerinnen

Bezüglich eines etwaigen Lizenzanspruchs aus EU-Kartellrecht vermisst das Gericht ausreichenden Sachvortrag der dafür beweisbelasteten Antragsgegnerinnen zur behaupteten marktbeherrschenden Stellung der Antragstellerinnen sowie zum Missbrauch einer solchen marktbeherrschenden Stellung, der Voraussetzung für einen Lizenzanspruch wäre. Zudem, so das Gericht, stünde die Behauptung der Antragsgegnerinnen, die Patente der Antragstellerinnen seien nicht rechtsbeständig, der Annahme einer marktbeherrschenden Stellung entgegen.

Zwar hätten die Antragstellerinnen – so das Gericht weiter – die Überlegenheit der patentgeschützten Technologie geltend gemacht, was zu einer Marktbeherrschung führen könne. Dem träten allerdings die Antragsgegnerinnen mit ihrem Vortrag entgegen, die angegriffene Ausführungsform sei technologisch einzigartig und würden durch zahlreiche Patente geschützt. Damit könne nicht von einer einseitig bestehenden Marktmacht ausgegangen werden. Im Übrigen verweist das Gericht auf den Charakter des summarischen Verfahrens und zudem auf den knappen Parteivortrag, der eine Entscheidung zur Frage der Marktbeherrschung nicht möglich mache.

 

g) Kein Missbrauch durch die Antragstellerinnen (Seite 96)

Ein Lizenzanspruch nach EU-Kartellrecht ist – unabhängig von der Frage der Marktbeherrschung – nach Auffassung des Gerichts auch deshalb nicht gegeben, weil kein Missbrauch durch die Antragstellerinnen vorliegt.

Das Gericht bezieht sich dazu auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C‑170/13 (Huawei ./. ZTE) zur Auslegung des Art. 102 AEUV. Dies betreffe aber die Konstellation bei SEPs, bei denen der Patentinhaber eine FRAND-Erklärung als Gegenleistung für die Aufnahme in einen Standard abgebe. In der vorliegenden Konstellation dagegen müssten – wenn man von einer marktbeherrschenden Stellung der Patentinhaberin ausginge – die Antragsgegnerinnen ein konkretes Lizenzangebot unterbreiten, was die Antragsgegnerinnen nicht getan hätten.

Das in der mündlichen Verhandlung unterbreitete Lizenzangebot sei zu spät erfolgt und habe zudem nur den nationalen deutschen Teil des Stammpatents EP‘ 928 und seiner Teilpatente betroffen, was bei einem Einheitspatent nach Auffassung des Gerichts nicht möglich ist. Zudem sei keine Regelung für die Vergangenheit angeboten worden.

 

f) Unterlassungsanordnung ist nicht unverhältnismäßig (Seite 99)

Die Antragsgegnerinnen hatten geltend gemacht, dass eine Unterlassungsanordnung unverhältnismäßig sei, weil

  1. das „angegriffene Verfahren ein völlig untergeordnetes Teil eines größeren, komplexen Produkts“ sei,
  2. die Antragstellerin zu 2) als Non-Practicing Entity ("NPE") kein schutzwürdiges Interesse an der Durchsetzung einer Unterlassungsanordnung habe, da sie nur monetäre Interessen verfolge,
  3. die angegriffenen Ausführungsformen  nicht-substituierbar  und  damit  von  unersetzlicher Bedeutung für die Erforschung einer Vielzahl von schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten seien,
  4. die Forschungstätigkeit Dritter beeinträchtigt werde,
  5. der zu beurteilende Sachverhalt wegen seiner Komplexität für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen ungeeignet sei.

Zum ersten Punkt vermisst das Gericht einen entsprechenden konkreten Sachvortrag und sieht im EPGÜ auch keinen Rechtsgrundsatz dahingehend, dass mit einem komplexen Produkt ohne die Folge einer Unterlassungsanordnung Rechte Dritter verletzt werden dürften. Zu Punkt 2 rechtfertigt nach Auffassung des Gerichts gerade ein finanzieller Schaden den Erlass einer Unterlassungsanordnung, so dass auch dieses Argument ins Leere liefe. Das dritte Argument steht nach Auffassung des Gerichts im Widerspruch zum Vortrag der Antragsgegnerinnen, die Produkte der Antragsgegnerinnen und die der Antragstellerinnen seien Konkurrenzprodukte. Für den vierten Punkt fehlt dem Gericht konkreter Sachvortrag, welche Forschungsvorhaben etc. in Gefahr gerieten.

Für das fünfte Argument sieht das Gericht keine Vorschrift im EPGÜ oder in der Verfahrensordnung, welche die Anordnung einstweiliger Maßnahmen im Falle hochkomplexer Technologien oder einer Vielzahl von zu behandelnden Themen ausschließen würde.

Unter Berücksichtigung und Würdigung all dieser Umstände“ ordnet das Gericht deshalb   die  beantragten einstweiligen Maßnahmen an.

 

11. Sicherheitsleistung (Seite 103)

Das Gericht sieht – sollte den Antragsgegnerinnen wegen der Aufhebung der Anordnung einstweiliger Maßnahmen ein Entschädigungsanspruch zustehen – im Hinblick auf die „wirtschaftliche Verfassung“ der Antragstellerinnen und das US-Vollstreckungsrecht keine Anhaltspunkte, die eine Sicherheitsleistung erfordern würden. Die beantragten Maßnahmen werden deshalb ohne Sicherheitsleistung angeordnet.

Dass die Antragsgegnerinnen als unterlegene Partei die Kosten des Verfahrens zu tragen haben, ist insoweit selbstverständlich und bedarf keiner weiteren Erörterung.

 

Fazit

Mit dem Urteil zeigt das neu installierte einheitliche Patentgericht seine Stärke auf. Die durch die Verfahrensordnung begründete straffe Prozessführung und insbesondere die technische Sachkunde auf der Richterbank erlauben es dem Gericht, auch technisch komplexe Sachverhalte in einem sehr überschaubaren Zeitrahmen zu entscheiden.

Nicht überraschend geht deshalb das Gericht davon aus, dass die Anordnung einstweiliger Maßnahmen durch das einheitliche Patentgericht auch in Fällen geboten ist, die sich technisch und rechtlich als sehr komplex darstellen.

Für die Frage der zeitlichen Komponente, der sogenannten Dringlichkeit, gibt das Urteil nichts her, da der Antrag für das erst im Mai 2023 erteilte Patent zum frühestmöglichen Zeitpunkt, nämlich bereits am 1. Juni 2023 eingereicht worden ist. Ein zu langes Zuwarten kann man hier nicht argumentieren.

Hinsichtlich der Interessenabwägung wird man dem Urteil entnehmen können, dass eine plausibel dargelegte Begründung, warum dem Antragsteller nicht wiedergutzumachender Schaden droht, für die Notwendigkeit der Anordnung einstweiliger Maßnahmen wohl ausreichen dürfte, falls der Antragsgegner nicht gute Argumente dagegen vorbringen kann.

Die vorangegangenen bzw. parallelen Aktivitäten des Antragstellers, seine Rechte auf nationaler Ebene durchzusetzen, werden vom Gericht bei der Interessenabwägung zumindest dann nicht in Betracht gezogen, wenn es sich, wie hier, um ein Einheitspatent handelt.

Nicht übersehen werden darf aber, dass es die Anordnung einstweiliger Maßnahmen im EPGÜ sozusagen nur im Doppelpack gibt: Nach Regel 213 muss die Hauptsacheklage spätestens innerhalb von 20 Werktagen bzw. 31 Kalendertagen nach einem vom Gericht  festgelegten Datum eingereicht werden, wobei Regel 9.4 eine Verlängerung dieser Frist durch das Gericht verbietet. Im vorliegenden Fall hat das Gericht ein solches Datum nicht festgelegt, da die Hauptsacheklage von den Antragstellern bereits eingereicht worden war.

Während z. B. in Deutschland der Antragsteller nach dem Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen Patentverletzung bis zum Ende der Verjährungsfrist mit der Einreichung einer Hauptsacheklage warten kann, falls nicht der Antragsgegner zuvor entweder eine Abschlusserklärung abgibt oder beantragt, dass das Gericht dem Antragssteller eine Frist zur Erhebung der Hauptsacheklage setzt, sind Verfügungs- und Hauptsacheverfahren beim UPC zeitlich sehr viel enger verzahnt.

Um den vorliegenden Fall zu entscheiden, musste sich die Münchner Lokalkammer mit vielen Fragen zur Auslegung des EPGÜ und dessen Verfahrensordnung auseinandersetzen, die vorher bestenfalls theoretisch erörtert worden waren, und hat damit ein Fundament für weitere Entscheidungen geschaffen, die darauf aufbauen können. Die Antragsgegnerinnen haben bereits angekündigt, Berufung einlegen zu wollen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, wird auch das Berufungsgericht unter seinem Präsidenten Dr. Grabinski bald die Gelegenheit haben, sich richtungsweisend mit diesen Rechtsfragen auseinanderzusetzen.